Der verschwommene Koerper

Das Wasser reicht Esteban bis zum Hals, alles um ihn herum fliesst, ist Welle und Bewegung. Sonnenlicht bricht sich im Wasser, dessen sanfte Stroemungen Estebans Koerper zum Pulsieren bringen und ihn wie in einem Tanz mitreissen, hin und her schuetteln.

Langsam durchdringt das Wasser seinen Koerper, beraubt ihn seiner Konturen. Alle Bewegungen werden nun komplexer. Jedes einzelne Molekuel seines Koerpers bewegt sich autonom, gehorcht auf jene Stimme in der Musik, die ihm am besten gefaellt. So rasen Teile von ihm, waehrend andere schwingen, ruhen, schweben. Die karibischen Rhythmen seines Insellebens verwandeln Esteban in ein modulares Molekular-Puzzle.

Die Musik, das Wasser, der Koerper – alles wird eins. In dem Roman >El siglo de las luces< wird dieser Prozess beziehungsreich geschildert. Der Autor Alejo Carpentier erweckt im Handlungsverlauf erstaunlicherweise Koerperbilder, die Kolumbus vor mehr als 500 Jahre vor Augen gehabt haben koennte. Esteban, der Protagonist des Carpentier-Romans - er haette einer jener Inselbewohner sein koennen, die Kolumbus erblickt, als er Oktober 1492 in der Karibik erstmals auf Landmassen stoesst. Der Entdecker ist zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Wochen auf offener See unterwegs, seine Maenner sind muede und ausgehungert. Dann traegt ihnen der Wind ploetzlich Landgeruch zu. Vogelflug und im Wasser treibende Vegetation sind weitere Vorboten eines bis dato ungesehenen Inselparadieses. Was Kolumbus nun zu Gesicht bekommt, muss ihm wie ein Wunder vorkommen - Ridley Scott zeigt diesen Moment in >1492< als delikate Naturerscheinung: Von einem dichten Wolkenmeer umgeben, liegt das Sehnsuchtsziel am Horizont. Als Kolumbus das Festland betritt, hat er was zum Schreiben dabei. Mit den Notizen, die er in seinem Bordbuch macht, versucht er Herr der Lage zu werden. Er schreibt und schreibt, haelt alles, was er sieht, minutioes fest: >Die Landschaft durchziehen viele maechtige Fluesse, die trinkbares Wasser fuehren […] voll von Baeumen der verschiedenen Arten, die hoch bis zu den Sternen reichen.<

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